Biographieforschung

Biographieforschung
Biographieforschung,
 
Soziologie: Zweig der soziologischen Forschung, der die Lebensläufe einzelner Menschen unter Berücksichtigung ihres gesamten lebensgeschichtlichen Umfeldes (vergleichend) untersucht, wobei Selbstaussagen und autobiographische Zeugnisse ausdrücklich eingeschlossen werden. Innerhalb der deutschen Soziologie spielte die biographische Analyse lange Zeit nur eine marginale Rolle. In den 1970er-Jahren kam es zu einer Wiederentdeckung des biographischen Paradigmas. Ursache dafür war das Unbehagen über die einseitige Dominanz makrosoziologische und funktionalistische Denkweisen, die die gesellschaftlichen Veränderungen (v. a. den technologischen Wandel innerhalb der Arbeitswelt, die neuen sozialen und ökologischen Krisenlagen, die Veränderung der Struktur der »Normalbiographie«, die neuen Lebensweisen und den Werte- und Bedürfniswandel in der hoch entwickelten Industriegesellschaft) nicht mehr adäquat und umfassend abzubilden vermochten. Darüber hinaus zeigte sich zunehmend, dass die Sterilität der reinen Datenmassen, die die Sozialstatistik und die Umfrageforschung hervorbrachten, zu einer verengten Sicht auf nunmehr gewandelte Problemlagen geführt hatte. Unter Rückgriff auf verschüttete Traditionen, insbesondere der phänomenologischen Soziologie (Georg Simmel) und der interaktionistischen Sozialtheorie (Chicago School), entwickelte sich die Biographieforschung zu einem relativ eigenständigen Forschungs- und Diskussionsfeld innerhalb der deutschen Soziologie. Im Zentrum stehen dabei Struktur und relative Eigenbedeutung des Verlaufs der individuellen Lebensführung. Die Biographieforschung bezieht damit die Subjektivität eines menschlichen Lebenslaufes in die soziologische Theoriebildung ein. Die relative Unschärfe der Konturen des Gegenstandsbereiches ist darin begründet, dass sich Biographieforschung auf der Schnittstelle des - interdisziplinär angelegten (Sozialgeschichte, Sprachwissenschaft, Psychologie u. a.) - Problems »Individuum und Gesellschaft« bewegt.
 
Gegenwärtig lassen sich folgende Analyseebenen der Biographieforschung benennen: 1) Untersuchung des Einflusses historischer Ereignisse auf Lebensverläufe, wobei insbesondere generationssoziologische Ansätze entwickelt werden; 2) Untersuchung institutionalisierter Formen und Durchgangsstadien des Lebensverlaufs durch soziale Typen des Alters (sozialisationstheoretische Kohortenforschung); 3) Analyse der Ausprägung von Biographien innerhalb verschiedener sozialer Milieus; 4) Biographie als je eigen- und sinnstrukturierte subjektive Organisation des Lebens, durch die Vergesellschaftung und Individuation vermittelt ist; 5) Biographie als Prozess der Entwicklung und der Veränderungen subjektiver Handlungsfähigkeit. Untersuchungen zum Wandel der Altersschichtung, zur Sozialdemographie und Mobilität sowie zur sozialen Verfestigung von Lebenszyklen bilden einen weiteren Schwerpunkt der Biographieforschung.
 
Zur Gewinnung von Daten nutzt die Biographieforschung die gesamte Palette der hauptsächlich qualitativen soziologischen Methoden (verschiedene Interviewformen, Gruppendiskussion, teilnehmende Beobachtung, Analyse von persönlichen und literarischen Dokumenten u. a.). Eine besondere Rolle spielt das so genannte narrative (»erzählende«) Interview, eine Form, in der die erzählende Person das Interview hinsichtlich der Schwerpunktsetzung (weitgehend) strukturiert. Zur Auswertung der gewonnenen Daten werden überwiegend hermeneutische und rekonstruktive Verfahren angewandt.

Universal-Lexikon. 2012.

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